Radikal-neutrale Wahrnehmung
Unter radikal neutraler Wahrnehmung verstehe ich, dass man die Zeichen nicht mehr auf die gewohnte Art deuten kann, weil man die Dinge, die äussere Welt nicht mehr interpretiert. In diesem Zustand wird z.B. ein ertrinkender Mensch mit entsprechenden Signalen nicht als solcher wahrgenommen... man hört quasi nur nichtssagende bedeutungsentleerte Geräusche. Neutrale Wahrnehmung versteht die eigene Sprache nicht mehr und ist auch nicht mehr imstande, die Buchstaben der Schrift ihrem Sinn nach zu entziffern. Auf Dauer wäre solche eine Wahrnehmung nicht möglich und wer eine solche nicht unterbrechen kann, hat ein Problem.
| Je nach Blickwinkel sieht man hier eine junge oder eine alte Frau |
Ich habe diese Art von Wahrnehmung früher sogar mal geübt , ist gar keine schlechte Übung, sie befreit von gewohnheitsmäßiger Sehweise und fördert die Kreativität. Genauso kann man z.B. üben, die Dinge ihrer gewohnten Form nach nicht mehr wahrzunehmen, sondern den Umrissen nach. Künstler können das sehr gut. Das ist eine Positiv-Negativ-Vertauschung. Statt die Dinge bzw. die Formen der Dinge sieht man die Umrisse der Gegenstände als positiv. Zu dieser Zeit wachte ich des nachts auch öfters auf, wobei ich meine Umgebung nicht mehr erkannte, weil sich alles umgekehrt hat, die Umrisse bzw. der Hintergrund der Möbel und anderer Gegenstände waren als Formen sichtbar, die Möbelumrisse aber waren verschwunden bzw. als solche nicht erkennbar; das war ganz schön erschreckend am Anfang. Allerdings hielt das nie lange an und nach ein paar Sekunden hatte sich alles wieder normalisiert.
Heute interpretiere ich diese Zustände/Zwischenfälle so, dass mir da ein praktischer Anschauungsunterricht in der Rubrik: "Auflösung der Formen" zuteil wurde! Neutrale Wahrnehmung! Aber radikal! Oh boah, da war ich aber froh, dass mein Blick sich so schnell wieder normalisierte und in die alte Konditionierung zurückkehrte!
Damals als mir das geschah, konnte ich diese Erfahrungen nicht einordnen, ich habe das nicht mit Spiritualität oder neutraler Wahrnehmung in Verbindung gebracht. Erst heute in der Retrospektive werden mir Erfahrungen klar, für die ich früher keine Worte hatte. Ich war froh, dass ich diese Dinge ertragen konnte, ohne gleich zum Doc zu laufen: Herr Doktor, Herr Doktor, zu Hilfe... die Welt löst sich auf.
Diese Übungen für Maler kann ich nur jedem empfehlen, der mal konkret erleben will, wie sich Formen "auflösen", bzw. die gewohnte Sicht auf die Formen/Dinge sich verändert. Dazu nehme man sich am besten
Oder man schaue so lange auf einen Gegenstand, - ein Bild an der Wand, eine Uhr o.ä. - bis sich der Gegenstand auflöst und der Hintergrund als abstrakte Form sichtbar wird. Ich denke, jeder kennt das Bild von der Vase, deren Hintergrund sich als zwei Gesichter darstellt.
(Ich habe damals sogar einmal die Stille als Hintergrund "gehört". he he)
Ähnlich machte ich es mal mit dem Lesen. Ich starrte so lange auf die Textstelle, bis mir der Sinn des Gelesenen und die Bedeutung der Worte und Buchstaben total fremd wurde.In diese Sparte gehört auch mein Einschlafzeremoniell, welches ich früher öfter anwandte, wenn mich der Straßenlärm o.ä. nicht einschlafen liess: Ich konzentrierte mich so lange auf den Lärm, bis er seine Bedeutung als negativ besetzter "Lärm" verloren hatte und zu einem neutralen Geräusch wurde und manchmal sogar wie Musik von verschiedenen Instrumenten klang.
| Je nach Blickeinstellung sieht man entweder eine Vase oder zwei Gesichter |
Im Grunde gehört all dies in die Rubrik der neutralen bzw. der "Reinen Wahrnehmung". Gerade frage ich mich: Ist es möglich, dass es Menschen gibt, die am hellichten Tage unvorhergesehen und plötzlich von der Wucht einer derartigen Wahrnehmung aus den Socken gehauen werden? Ich erinnere mich da gerade an Schilderungen von Menschen, denen die Welt in Fragmente oder Pixel zerfiel - sichtbarlich vor den eigenen Augen. Normalerweise kann man davon ausgehen, dass außergewöhnliche Phänomene, die sich vor den sinnlichen Augen abzuspielen scheinen, Halluzinationen sind...Aaaber: Es könnte sich jedoch bei dieser Art von "Weltuntergang" aber auch um eben jene Wahrnehmungsverschiebung handeln, die gerade oben beschrieben habe - wobei der Hintergrund in den Vordergrund rückte und als "Pixel" interpretiert bzw. wahrgenommen wurde, weil dieser Begriff sich zur Beschreibung am besten zu eignen schien.
Es geht in diesen Dingen wie bei aller geistiger Erkenntnis nicht um eine dauerhafte - das Ego will immer Dauer - eine dauerhafte Veränderung in der Wahrnehmung; eine andauernde radikal-neutrale Wahrnehmung ist nicht möglich. Es geht auch niemals darum, die Wahrnehmung dauerhaft zu verändern, sondern sich dauerhaft von der uns ankonditionierten Wahrnehmung zu dekonditionieren/desidentifizieren!
Es sind dies immer die kurzen Enthüllungs- oder Gewahrseinsblitze, die von der Identifikation befrein, aber sie befreien uns nicht von den Objekten der Wahrnehmung selbst. Desidentifikation bedeutet ganz einfach, dass man den Glauben an die alte Wahrnehmungsweise verliert bzw. die Realität der äusseren Welt, die wir wahrnehmen, nicht mehr ernstnehmen. Die Konditionierung ist erschüttert. Wo die Identifikation wegfällt, berührt die äussere Welt nicht mehr auf die alte gewohnte identifizierende Weise. Am Ende des Transformationszyklus ist der Raum oder der Baum wieder ein Baum ein Baum ein Baum - man ist nur nicht mehr mit dem Wissen über den Baum identifiziert.
Fazit: Die radikal-neutrale Wahrnehmung ist nicht alltagstauglich. Man sollte ihrer nicht ausgiebig frönen, da unter dem Einfluss dieser "Droge" alle möglichen und unmöglichen Dinge passieren können.
Am Ende ist es so, dass der Göttliche Gleichmut weit bekömmlicher ist als die radikal-neutrale Wahrnehmung, da der Gleichmut nicht nötig hat, die Sinne auszuschalten, wie es die radikal-neutrale Wahrnehmung erfordert.
Fazit 2: Samarpan hat meditiert. Punkt. Jetzt wisse mer's. Endlich. LOL.
PS: Noch mal kurz, damit die Klarheiten restlos beseitig werden. Die ungefährliche einfache gemeine Neutrale Wahrnehmung beruht auf der nichtwertenden Sichtweise, diese schliesst die Sinne nicht aus, alles bleibt intakt. Im Gegensatz dazu die radikal-neutrale Wahrnehmung, die wohl nebst der Nichtwertung auch die Eigenschaftlosigkeit der Dinge beinhaltet.... hehe, wie gesagt, soweit muss man nicht gehen... - es reicht völlig aus, wenn man sich ein einziges Mal als das eigenschaftslose Bewusstsein/Gewahrsein erkannt hat, dann ist niemand mehr da, der... hehe
Buchempfehlung: Aldous Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung
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